Aus: Elena Becker (v. Hag). Die Aufgabe oder was weiß der Himmel? Roman.

© epubli Verlag GmbH. Berlin. (1998) 2010

"Fahr nicht so schnell!". Monika trat in die Pedale, um Ludwig hinterherzukommen. Für Ludwig war die Steigung ein Kinderspiel. Er wurde überhaupt nicht müde, während Monika absteigen mußte, um zu schieben. Auch Ludwig blieb jetzt auf der Anhöhe stehen und wartete, bis Monika ihn erreicht hatte. Ein tyrannischer Gegenwind focht mit Monika einen heimtückischen Krieg aus, in dem sie unterlegen war. Die Haare flogen ihr hilflos um den Kopf, mit dem sie aussehen mußte wie eine Meduse. Ludwig stand auf der Anhöhe, unbehelligt, unkorrumpierbar. Er sah der Sonne nach, die auf der anderen Seite unterging, der Seite der Ewigen, für die Monika nicht bestimmt war. Ludwig hörte nicht das Brüllen um ihn herum. Die Grimassen der Gegenwart konnten ihm nichts anhaben, so schien es. Jetzt sah er zu Monika hin, die sich zu ihm heraufmühte, als hätte er sie erst jetzt bemerkt. Sie lächelte ihm entschuldigend entgegen, entschuldigend für ihre Sterblichkeit. "Ich kann nicht mehr", keuchte Monika. "Wir müssen eine Pause machen." Ludwig war einverstanden. Sie schoben ihre Fahrräder ein Stück abseits der Straße und ließen sie dort ins Gras fallen. Sie setzten sich neben die plappernden Reifen auf Ludwigs Jacke. Der Wind, der Monika eben noch angepöbelt hatte, ging mit dem Wiesenstück, das unter ihnen lag, umso sorgsamer um. Er strich, langsam und bedächtig, darüber hinweg, ein Spaziergänger, der seinen Gedanken nachhing, nach Feierabend, wenn er, insgeheim, das Loblied der Arbeit eine Lüge nennen durfte. Monika strich ihr Kleid zurecht und wartete darauf, daß Ludwig etwas sagte. Sie wartete immer darauf, daß er das Wort ergriff, es war das Privileg, das sie ihm gegeben hatte. Er nahm es wie selbstverständlich an. Aber er sagte nichts. Sie suchte die Richtung seines Blickes und fand einen Flußlauf, der sich mit schlängelnden Bewegungen entfernte. Es waren noch ein paar belegte Brote übrig, die sie für den Ausflug von zuhause mitgenommen hatten. Monika packte eines davon aus und gab es Ludwig, der in den nächsten fünf Minuten daran kaute.

"Du hast mir versprochen, mich zu zeichnen", sagte sie schließlich. Ludwig war nicht danach, zu zeichnen. Monika fing an, zu betteln und ließ ihm keine Ruhe, bis er ja sagte. "Mach ein glücklicheres Gesicht", sagte er nach ein paar Strichen.

"Ich bin nur glücklich, wenn du auch glücklich bist. Bist du es?" Diesmal war es keine Frage, auf die sie ein `ja´ erwartete, wie sie es häufig tat, weil sie wollte, daß er es bestätigte und ihre Zweifel ausräumte. Es war eine ernsthafte Frage. Sie war gefaßt darauf, die Wahrheit zu hören. Sie wußte, daß sich Ludwig von ihren Eltern unter Druck gesetzt fühlte. Sie hätte es nicht ertragen können, wenn er sie dafür verabscheute. Ein Lächeln flog über sein Gesicht, wie ertappt. Auch Wahrheiten konnten sich ändern, ohne, daß man sie dazu zwang. Sie änderten sich mit dem Tonfall, in dem Monika ihn gefragt hatte. Hätte sie die Frage anders gestellt, in ihrer kindischen, naiven Art, hätte er gelogen oder ihr die Wahrheit rücksichtslos ins Gesicht geschleudert. Auch jetzt log er. Aber es war keine erpreßte Lüge und zur Hälfte war sie schon wahrgeworden. Sie hatte ihre Maske halb abgenommen. Monika gab sich mit der Antwort zufrieden, die sie aus ihm herausgelockt hatte. Wenigstens sprach er mit ihr. Das war schon genug. Jetzt konnte sie sich entspannt ins Gras lehnen, während er sie zeichnete. Sie hatten die Zeichnung im Schlafzimmer aufgehängt, Monika fand, es war ein privates Bild, das nur ihr und Ludwig gehörte. Monika hatte seine Zeichenmappe durchgesucht und einige der Bilder rahmen lassen, um Ludwig damit zu überraschen. Es war eine Abbitte. Die Bilder hingen aufgereiht im Gang. Er sah damit aus wie eine Galerie, spottete Ludwig, dem es nichts desto trotz zu gefallen schien. Aber es war ihm immer lästig, wenn Gäste kamen, die, wie er fand, aus Höflichkeit, seine Bilder lobten. Vielleicht fühlte er sich auch nur daran erinnert, daß er in seinem Leben eigentlich etwas anderes vorhatte, etwas, das ihm jetzt verwehrt war. Am schlimmsten war es für ihn, wenn er mit einem anderen verhinderten Künstler verglichen wurde. Dann wandte er sich ab und Monika wußte, daß ihm die Tränen in den Augen standen.

Möglicherweise hatte ihn das sogar dazu provoziert, diese Blätter anzufertigen. Sie mußte zu einer Vorladung ins Gestapohauptquartier und dort hatte man ihr diese Blätter gezeigt. Sie durfte sich nicht auch in die Sache hineinziehen lassen, hatten ihr die Eltern ausdrücklich mit auf den Weg gegeben. Sie räumte ein, diese Zeichnungen konnten von Ludwig wie von jedem anderen stammen, der seine Begabung besaß. Aber konnten sie auch von Ludwig stammen? Der Offizier ließ nicht davon ab, die Worte in ihrem Mund zu verdrehen. Sie wußte, was für sie auf dem Spiel stand. Es ging jetzt nicht mehr nur um ihren Mann, fuhr sie der Offizier an, wenn es auch ihr Vater war, der ihn angezeigt hatte. Sie mußte Stellung beziehen, entscheiden, wohin sie gehörte. Ludwig hatte schon gewählt, sagte der Offizier. Aber das war doch noch gar nicht bewiesen, rief Monika.

....

Ich öffnete das Fenster, das Hindernis, das zwischen mir und dem stand, das ich ausgesperrt hatte, die Erinnerung an eine laute, tobende Kinderwelt, die draußen ausgelassen spielte und das Spiel hieß Himmel und Hölle. Da war Lachen und Schreien, nicht aus Schmerz, denn dieser lodernde Raum, der sich auftat, war ein schmerzloses Feuer, in das man gefahrlos springen konnte, alles verzehrend, alles aufnehmend, ohne Rechenschaft abzulegen, ohne irgendetwas im Austausch dafür zu geben, bevor sich dieser Raum in Todesangst verkrampfte und zusammenzog, fliehend, immer fliehend vor sich selbst und seiner Umgebung, die ihm keinen Raum ließ. Wenn diese Kinder, Helden ohne Geschichte, ohne sich in Erzählungen anzustrengen, die um sie wie süße Krümel herumlagen, ohne Grammatik und eine Sprache, diese überflüssige Pflicht, glücklich oder traurig, nach Hause kamen, schmutzig und mit zerrissenen Kleidern, sagten die Eltern zu ihnen, sie waren heute ein böses Kind gewesen. Böse, weil sie nicht auf ihre Kleidung geachtet hatten, böse, weil sie sich schmutzig gemacht hatten oder böse, weil sie sich mit einem anderen Kind schlugen, das ihnen gar nichts getan hatte, und jetzt an der Stirn bluteten. Dann wurde die Wunde, ob schuldig oder nicht, mit einem Pflaster versorgt, Badewasser eingelassen oder ein nasser, rauher Waschlappen geholt, mit dem die Mutter über die Knie des Kindes fuhr und sie schrubbte, mit einer brennenden Seife, die das Kind sauber machen sollte und von diesem Dreck befreien, den es unerlaubt mit ins Haus geschleppt hatte, einen frechen Nachbarsbengel, der keine Erziehung besaß. Dann mußten sie, nach dem Essen, das sie hungrig in sich hineinschlangen, gleich ins Bett, noch mit einer Haut, die spannte, daß sie fast zerplatzte und einer Ohrfeige, die immer noch auf den Wangen pochte. Dort schliefen sie gleich ein, weil sie wieder in diesen befreundeten Raum stürzten, in dem alles schwerelos war, mühelos, der sie in seinen Armen wog, bereit, am nächsten Tag die gleichen Früchte hervorzubringen, von denen sie am Vortag bis zum Überdruß genascht hatten. Dann waren sie wieder die Könige und Bettler, Seefahrer, Abenteurer und Eroberer, die gegen feindliche Welten loszogen, eine böse Welt, die mit Gefahren auflauerte, ein Raubtier, das sie aus tausend Fensterschlitzen beäugte. Aber diese böse Welt, in die sie tappten, weil sie daneben gesprungen waren, war nicht wirklich. Sie war von Geistern und Zauberern beherrscht und bösen Menschen, vor denen sie die Eltern warnten und die sie meiden sollten und nie mit Fremden gehen. Sie zeichneten Linien in den Sand oder auf die Straße, Eindeutigkeiten, die rasch hingemalt und wieder ausgewischt werden konnten, aber die Strenge von Gesetzen besaßen, die mit Sanktionen bedrohten, solange sie sichtbar waren. Das Strafmaß war reine Einbildung und genauso wirklich, das darauf stand, das Rechteck zu verfehlen, kompromißlos und unerbittlich wie der Tod, der sie vom Leben abschnitt. Der Vater des Nachbarjungen war gestorben. Er hatte einen Unfall gehabt oder eine plötzliche Krankheit und nun waren die Kinder allein. Wo war er jetzt, wo war er hingegangen, fragten sie? Sie kannten keinen Namen für den Ort, in dem der Raum verschwand, den Fluchtpunkt, in dem die Linien zusammenliefen und vernichtet wurden, im gleichen Moment, in dem sie sich trafen, deshalb erfand man einen, der ihnen den Tod tröstlich machen sollte, nannte ihn Himmel. Der Himmel war auch der Ort, hieß es, der den Kindern, allen Kindern sicher war, denn es war der Ort der Unschuld und derer, die geliebt wurden. So ließen es die Eltern, die es besser wußten, ihre Kinder glauben, denen sie die Wahrheit ersparten, diese Engel, für die es keinen Unterschied machte, ob Leben oder Tod, dem sie stets nahe waren, denn für sie war alles Himmel, solange sie nichts böses taten. Himmel und Hölle, etwas anderes gab es nicht, das war die Wahl. Das Leben war leicht ausgewischt, konnte schief oder gerade verlaufen, mit zittriger Hand aufgetragen sein oder geübt und sicher, es änderte nichts am Spiel und wenn die Kinder brav waren und folgsam, kamen sie in den Himmel. Ich öffnete das Fenster und herein purzelten die buntscheckigen Rechtecke und Würfel, die eben noch stramm standen, als trugen sie einen neuen Anzug, ein enges Kleid, in dem sie sich nicht wohl fühlten und auf das sie achten mußten, sie flogen um mich wie Vögel, die sich verirrten, alles umwarfen, das ihnen bei ihrem Flug durch das Zimmer im Weg stand. Auch sie waren gut oder böse, dazu fähig, aber sie wußten noch nichts davon und besaßen diese Unbeschwertheit des Verzeihens, das ihnen gewiß war, deshalb, weil sie ja nur Kinder waren und die Erwachsenenwelt nicht begriffen. Diese heikle, leicht reizbare, immer zeternde Erwachsenenwelt, die sofort reagierte und zuschlug, sobald man ihre Grenzen überschritt, diese Welt begriffen sie noch nicht, die ihnen vererbt wurde und die sie waren. Sie hätten sie ändern können, anstatt zu gehorchen und zu tun, was ihnen aufgetragen war. Sie wollten sie auch ändern, aber es war nicht zum Guten. Sie hatten ja ihre Lektionen gelernt, denn der Raum hatte sich gewandelt, mit jeder Belehrung, die sie über sich erhielten und die Unabänderlichkeit, war er hart und grausam geworden und das harmlose Feuer, das sie von nun an mieden, dem sie nicht zu nahe kommen wollten, tat ihnen weh. Sie waren jetzt mit dem Ritual vertraut und das Heilige, das sie unwissend gereizt und herausgefordert hatten, mit dem sie gespielt und sich angelegt, das sie geneckt, gezwickt und gezupft und mit dem sie ihre Scherze getrieben hatten, daß es nur ein dumpfes, gutwilliges Grollen von sich gab, kannten sie jetzt und seine Autorität, die ihnen Ehrfurcht einflößte. Sie wußten, daß es sie nur geschont hatte und die Ohrfeigen, an die sie sich jetzt lächelnd erinnerten, nur ein Klaps war, mit dem ihre Finger von Dingen verscheucht wurden, die sie nichts angingen und sie dennoch, mit unbefriedigtem Neid, immer noch haben wollten. Als sie sich von ihrer Welt verabschiedeten, weil sie dachten, sich verabschieden zu müssen, weil sie diese Welt nicht mitnehmen konnten, wie ein Stofftier, das ausgedient hatte und endlich aus dem Bett entfernt wurde, weil das Kind zu alt dafür war, verließen sie ein Königreich, das sie allein regierten und überließen es Usurpatoren, die alles vereinnahmten und nie teilten. Die Kinder, die erwachsen wurden, als sie von dort vertrieben wurden und es deshalb werden mußten, in ihrer schüchternen Vernunft, blickten zurück auf die versengte und wütende Erde, der einst verwilderte Garten ihrer Kindheit, in dem andere nun das Sagen hatten, weil sie es ihnen erlaubten, denen, die immer und selbstverständlich die Protagonisten nicht nur ihres eigenen Lebens, sondern auch das der anderen waren, waren von der Traurigkeit dieser Armut gelähmt und glaubten noch immer, daß es so sein müßte. Unbelehrbare.

Das Mädchen mit den dunklen Haaren saß in der hintersten Bank. Noch immer wagte es nicht, zu den Mauern hinzusehen, die sich vor den Fenstern verschränkten und seinem Blick den Weg versperrten. Das Mädchen blieb davor wie gelähmt stehen und sah auf den Boden, um sie nicht zu reizen und zu warten, bis sie wieder gingen, weil sie die Lust verloren hatten, das Mädchen zu ärgern. Aber die Mauern rührten sich nicht vom Fleck und belagerten die Fenster und den ganzen Hof, in den das Mädchen nicht gehen wollte. Sie konnte nicht sehen, was hinter diesen Mauern lag und deshalb hatte sie Angst, daß die Welt dahinter abgestürzt sei und alles, das sie kannte. Sie hatte geweint und geschrien, als sie hierher gebracht wurde. Sie hatte sich an den Beinen des Mannes festgeklammert, der ein Fremder war und dem sie nur anvertraut wurde, damit er sie im Waisenhaus ablieferte. Der Fremde hatte sich von ihr freigemacht und ging. Die hohe Tür sprang auf und der Mann trat in das helle Rechteck, das ihn für immer fortriß. Das Gewölbe des Ganges sperrte sich vor dem Mädchen auf, unersättlich, starrend aus einer endlosen Schlucht, die an dem Mädchen zog und zerrte und, ungestillt, weinte wie es. Aber es waren Hände, die das Mädchen flüsternd in ihre Obhut nahmen und es sacht vom Ausgang wegschoben, der ihm verwehrt war. Das Mädchen mußte mit ihnen gehen, wurde gelockt und getröstet, ein Schwarm schwarzer Gestalten, aus denen Gesichter spiegelten, wie Butzenscheiben, soeben, wenn durch das Fenster das Licht auf sie fiel, flog ihm voraus in das Unbekannte. Ein Gesicht beugte sich immer wieder herab und redete dem Mädchen zu, das immer noch nicht beruhigt war, dann war es wieder in unerreichbaren Höhen und kannte das Mädchen nicht mehr. Das Mädchen besaß eine Stoffpuppe und zwei Kleider, die der Mann in dem kleinen Koffer mitgebracht hatte und den jetzt die Schwester trug, die raschelnd über die steinernen Fliesen huschte. Das Mädchen preßte die Stoffpuppe gegen seinen Körper, zwei Rebellen, die zueinander hielten und sich nicht losließen. Die Schwester tat alles, um dem Mädchen die Angst zu nehmen, lachte, und sprach mit freundlicher Stimme. Aber das Mädchen verzieh ihr das schwarze Kleid nicht, den Tod und das Alleinsein und konnte nicht verstehen, weshalb die fremde Frau nicht verstand, die vorgab, es sei nichts geschehen. Sie sagte, die Mutter des Mädchens sei nur fortgegangen, aber sagte nicht, wohin und weshalb. Sie lächelte dabei und lächelte aus diesem Kleid und seiner Traurigkeit. Aber wie konnte das Mädchen fröhlich sein wie sie, wenn es allein war und keine Eltern besaß, nur die Puppe, die es nicht verließ?