Elena Becker MA

Das Problem der Anpassung oder: die Folgen des Ost-West-Konflikts (1990/2024)

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Nur der, der nachahmt, versteht- heißt es sinngemäß in Th.W. Adornos „Ästhetische Theorie“1, worin sich -zunächst- die „künstlerische“ Erkenntnis von der begrifflichen trennt.

Derart wird in Adornos „Ästhetische Theorie“ nicht nur dem traditionellen Prinzip des ästhetischen Prozesses Rechnung getragen, sondern auch das Problem des Übergangs von Theorie in Praxis berührt, woraus ein künstlerisches Gebilde wie ein Kunstwerk oder der „Staat“ hervorgeht.

Die Kunst konkretisiert sich, Adorno zufolge, in einer „Unbestimmtheitszone“ zwischen dem „Unerreichbaren“ und dem „Realisierten“, die, ohne je in einer „bruchlosen Einheit“ Stillstand zu finden, den unauflöslichen und begrenzenden inneren Widerspruch ihres Charakters ausmacht.2

Die ästhetische Utopie zeigt sich in politischer Hinsicht doppelt als Desiderat wie als Konfliktpotential, in der Gestalt des Ost-West-Konflikts, dessen Folgeerscheinungen im „wiedervereinten Deutschland“ nach 1990 wirksam sind, ebenso eindringlich wie im „Nahen Osten“, wo die islamistische Welt ihre kulturelle Identität gegenüber westlicher Prädominanz deklariert.

Die möglichst schnelle „Angleichung“ an westlichen Standard und Lifestyle war das ausschlaggebende Motiv der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die „vom Volk“ ausgehend durch einen neuen revolutionären Modus, eine passive Verweigerung des bestehenden Systems, erzwungen und von der bundesrepublikanischen Regierung im „Versprechen“ festgehalten wurde.

Zu pragmatisch und administrativ gingen die dazu berufenen behördlichen „Übergangs“-Institutionen dann in der Umsetzung ihrer Zielvorgabe ans Werk, wie Jürgen Habermas in dem Gespräch „Vergangenheit als Zukunft“(1990) kritisierte.

Was der Begründer der „Diskursethik“ dabei bemängelt, ist v.a. der Umstand, daß eine politische Umwälzung ohne einen Prozeß der intellektuellen Gewöhnung und Auseinandersetzung stattgefunden hat, Fakten geschaffen wurden ohne einen „evolutiven“ Entwicklungsprozeß, der von den geistigen Kräften ausgetragen wurde. Die „intellektuelle“ Kontinuität, die das alte System in ein neu entstehendes hätte überleiten können und sollen, um eine Legitimität von „Normen“ und „Institutionen“ zu gewährleisten, ist zerrissen und nachhaltig traumatisiert.

„Denn“, so Habermas,

„die intellektuellen Kapazitäten lassen sich, wenn man die Produktion für zwei, drei oder fünf Jahre unterbricht, nicht mehr regenerieren.... Jedoch lassen sich industrielle Kapazitäten unter anderen Bedingungen ersetzen. Zerfallene kulturelle Milieus lassen sich nicht in gleicher Weise wieder aufbauen.“(J. Habermas. Vergangenheit als Zukunft. S. 63)

Hier muß der fast zwangsläufige Einwand kommen, daß es unter einem totalitären Regime ein derartiges kulturelles Milieu zu 90 Prozent nur verordnet gegeben habe und es deshalb kein beklagenswerter Verlust sei, wenn dieses auf demselben Verordnungsweg wieder beseitigt würde.

Es wurde höchstens dessen Vakanz aufgedeckt, was von einer rückwärts gesinnten DDR- Romantik positiviert wird, weil sie mit den unerwarteten Anpassungsschwierigkeiten nicht fertig wird.

Unberücksichtigt ist der Anteil der subversiven Systemkritiker innerhalb der DDR, die nach deren Auflösung allerdings genau mit dem an die Adresse der Intellektuellen gerichteten Vorwurf zu kämpfen hatten, der zugleich ihre eigene Legitimität bestimmte, nämlich in erster Linie die Funktion des Kritikers auszufüllen, dessen Zielscheibe mit der DDR von heute auf morgen verschwunden war.

Die Fehler des „neuen“ Systems scheinen von denen des alten so grundverschieden, daß ihre Gemeinsamkeiten noch nicht entdeckt sind oder der Überzeugung des ehemaligen Kritikers in dem Sinn konterkarieren, daß er sie, nicht anders als der DDR-Dogmatiker, nicht wahrhaben will oder sie -noch- nicht verarbeiten kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund liegt die „kritische“ DDR-Literatur von ehedem brach.

Daß die Intellektuellen, die den Umsturz vorbereitet haben, von dem Stimmungsumschwung, der sich mehrheitlich auf Bedürfnisse bezog denn auf eine politische Überzeugung, davon überrumpelt wurden, scheint ihnen erst im nachhinein zu dämmern. Der Konsens, der nach J. Habermas nur im Medium intellektueller Kommunikation zustande kommt, konnte kein staatstragendes politisches Bewußtsein ausbilden, das über eine äußerliche Identität der Lebensverhältnisse hinausging.

Doch auch diese „wirtschaftliche“ Gleichheit fiel hinter der, somit im schlechten Sinn, utopischen Vorgabe zurück und erwies sich bis dato als nicht eingeholt, was aufgrund der nicht erfüllten Bedürfnisse nun die „reaktionären“ Tendenzen zur Folge hat, die sich auch als dialektischen Umschlag interpretieren lassen, aber nicht auf der Basis eines geistigen Prozesses oder Progresses.

Erst vor dem Hintergrund neuer existentieller Diskrepanzen ist der Nährboden für Reaktionismus und, im Hinblick auf den Nahost-Konflikt, der sich konstellativ auf die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern „zurückspiegeln“ lassen kann, einen aggressiven Fundamentalismus geschaffen, der sich in und als kulturell-religiöse Identität geltend macht, die er mit Waffengewalt und nicht enden wollenden Terrorattacken artikuliert.

Es sprechen im heutigen Gazagebiet und in Israel, das sich als „Vorposten des Westens“(J. Habermas) begreift, Waffen statt Worten und Worte wie Waffen.

Stimmt Jürgen Habermas seinem Kollegen John Rawls dahingehend zu, daß es „in den weltanschaulichen und religiösen Deutungen tiefer moralischer Gefühle und elementarer Erfahrungen des kommunikativen Umgangs einen `überlappenden Konsensus´ (gibt), auf den die Völkergemeinschaft die Normen eines friedlichen Zusammenlebens stützen kann“(Habermas, ebd. S. 30) und daß die Weltreligionen in einem „Kernbestand von moralischen Institutionen“(ebd.) übereinstimmen, die die „Achtung“(ebd.) und „versehrbare Intersubjektivität“(ebd.) aller Menschen einschließt, so klingt dies angesichts der Eskalationen und sie begleitenden Pathologien – utopisch.

Es ist eine politische Utopie, die nicht ohne realistische Aussicht auf Erfüllung ist, aber sich, wie im demokratischen (wiedervereinigten) Deutschland, ständig neu beweisen und bewähren muß, und die, nicht immer mit Optimismus beflügelte Hoffnung zum Ausdruck bringt, edoch verdächtigt werden kann, als Erbe Immanuel Kants und Gotthold Ephraim Lessings „westlichem“ Aufklärungsdenken zu entspringen.

Sofern aber der Weltfriede und eine diesen schützende internationale Verfassung vom Standpunkt einer anderen Kultur keine Anerkennung findet und als aufoktroyiert abgelehnt wird, ist es eine „petitio principii“, sich darauf zu berufen.

Scheitert der „politische Weg“ an der Einsicht und der Bereitschaft zum Konsens, kann es aber nach dem bereits geschehenen Leid nur die Prospektive der -ästhetischen- Aufarbeitung geben, die die geschichtliche Erfahrung im Medium der Kunst intersubjektiv nachvollziehbar macht und zu „erinnern“ ist, ohne das Leid als solches zu wiederholen. E.B.